Presseschau

 

zu «Des Reimes willen Henk»

 

Der Kabarettist mit dem derzeit originellsten Schweizer Roman

Hansruedi Kugler, CH-Media-Zeitungen, 11. Januar 2024

«Ach, was war der Henk romantisch! ... Nein doch, Vater abgehauen, Mutter psychopathisch» – Ralf Schlatter lässt es ganz schön rumpeln in seinen Reimen. Und hält die Reimerei tatsächlich im Schema A B A B bis zur letzten Seite 111 von «Des Reimens willen Henk» durch. Dafür gebührt ihm schon mal der Titel des derzeit originellsten Schweizer Romans, worin er seinen jungen Taugenichts Henk auf eine kuriose, schelmisch erzählte Selbstfindungsreise schickt. Es ist mit viel Selbstironie eine herrliche Parodie auf das Genre des Coming-of-Age-Romans. Gewürzt mit spitzen Seitenhieben auf Kants Vernunft, auf Nietzsches «Werde, der du bist», auf poetisches Gemurkse wie Kalauer und Binsenweisheiten. Wer einen Beweis dafür braucht, dass jede Literatur im Grunde ein blosses Spiel mit Wörtern ist, findet ihn überdeutlich auf jeder dieser 111 Seiten. Womit gleich der Schlusssatz dieses Romans verraten ist: «Alles nur ein Spiel ...» Schlatters Romanheld Henk verlässt als junger Mann enttäuscht sein Elternhaus. Denn sein Vater ist durchgebrannt – ausgerechnet mit der Mutter von Henks angehimmelter Trix, und Henks Mutter döst auf dem Sofa ihr Leben weg. Ohne Proviant kehrt der Tölpel zunächst mit Hundescheisse an den Schuhen zurück, dann aber führt ihn die Selbstfindungsreise zu einer Vogelauffangstation in der nahen Stadt. Symbolisch ist das logisch, denn unterwegs haben ihm Raben, Rotmilane und Schwalben als Freiheitsboten den Weg gewiesen. Schlatter spielt vergnügt mit solchen genretypischen Elementen. In der Liebe bleibt der zaudernde Henk glücklos, bis zu seinem 50. Lebensjahr (und Schlatter kommentiert: «So unter uns: das beste! Nennt das kitschig, mir egal, ich wollte einfach, dass ihrs wisst.»). Dann aber kehrt er zurück zu Trix («Grosser Schritt für Henk und kleiner für die Menschheit») – bis zum märchenhaften Glück eines symbiotischen Liebespaartodes in der Zirkusmanege. Solches aber gibt es wohl wirklich nur in spielerisch-vergnügter Literatur wie in diesem «Des Reimes willen Henk». Der gebürtige Schaffhauser ist mit Anna-Katharina Rickert im Kabarettduo schön&gut seit Jahrzehnten mit hintersinnig-absurdem Witz Dauergast auf den Kleinkunstbühnen der Schweiz. Romane verfasst Schlatter mit ebensolchem Grinsen auf den Stockzähnen. Der Titel des Vorgängers: «43’586», ein Dekameron im Stil von Boccaccio, aber mit 43'586 Wörtern. Im neuen Roman «Des Reimens willen Henk» erkennt man den Einfluss von Wortspielern wie Wilhelm Busch, Christian Morgenstern und Heinz Erhard, vielleicht sogar von Satiremagazinen wie «Nebelspalter» oder «Titanic». Er habe schon immer fürs Leben gern gereimt, sagte Ralf Schlatter kürzlich im Interview mit der Lektorin Merle Rüdisser. Und ganz Humorist ergänzte er: «Reimen macht übrigens glücklich: Wenn das Hirn ein Wort liest oder hört und dann eines, das sich reimt, empfindet es ein Harmoniegefühl und schüttet Glückshormone aus. Ich müsste vielleicht mal bei den Krankenkassen anklopfen, ob ich Geld für das Buch erhalte.»

 

Es wackelt, aber wie!

Hans Mentz, Satiremagazin TITANIC, Dezember 2023

»Wer dichten kann, ist Dichtersmann«, definierte einst bündig H. C. Artmann, der wusste, wovon er sprach, weil es sich bei ihm ja geradezu um den Idealtypus eines Dichtersmannes handelte. Selige Zeiten, als in der Hochlyrik noch unbekümmert drauflosgereimt werden durfte! Das macht heute kaum noch einer (oder: eine), heute wird nur noch in der komischen Lyrik gereimt. Die entsprechenden Namen sind meinem Publikum natürlich bekannt. Mir zugegebenermaßen nicht bekannt war bis vor kurzem der Schweizer Autor und Kabarettist Ralf Schlatter, was sich jedoch durch sein auf eigenwillige Art komisches, traditionelle Formate wie Versepos und Bänkelsang aufgreifendes, als »Roman in Reimen« untertiteltes Langgedicht »Des Reimes willen Henk« (Limbus) geändert hat. Titel und Untertitel sind so programmatisch wie das Tocotronic entlehnte Motto: »Hauptsache, es reimt sich«. Wir haben verstanden, Herr Schlatter, und machen uns entsprechend eingenordet an die Lektüre der 110 Seiten, auf denen die ziemlich turbulente Geschichte des »Taugenichts« Henk erzählt wird; ein Scheidungskind, welches sich aufgrund seiner üblen Erfahrungen mit (erwachsenen) Menschen eher zu Tieren hingezogen fühlt, insbesondere zu Vögeln. Das »moderne Märchen« führt Henk denn auch märchenhaft, von einem Raben geleitet, zu dem einzigen Menschen, der ihm etwas bedeutet, nämlich zu seiner Kindheitsliebe Trix, die inzwischen bei einem Zirkus arbeitet. Und so wie sich Henk auf »Fußgelenk« reimt und Trix minimalistisch auf »X«, so paar(reim)en sich die beiden auf ihre Weise auch aufs harmonischste: »ein, zwei Schritte Richtung Bett und nieder mit Getöse, / Kleider schwupps vom Leib, es fängt gleich an zu wackeln, aber wie! / Und ich verzieh mich eine Runde, seid mir bitte nicht zu böse, / solches ist für Lesende am schönsten in der Fantasie …« Wie die fantasieschöne Geschichte zu einem Happy End führt, soll hier nicht ausbuchstabiert werden, liegt doch das Vergnügen nicht in der Handlung, sondern im Reimwerk. Dessen Schema ist simpel, und dass es gelegentlich im Metrum wackelt, ist eingepreist, wie man heute so sagt. Dafür spielt Schlatter beachtlich kunstfertig mit Formen und Phrasen: »ach, es bricht / die Zeile und mein Herz«. Wer so gebrochen und brechend vorgeht, darf irgendwann auch mal das besagte Herz auf Schmerz reimen; ironisch natürlich, handelt es sich doch um profanen »Muskelschmerz«. Spaß macht auch die Chuzpe, mit der Schlatter dem Reimlexikon oder der Dichtersmannkreativität seine Verse entnimmt: Da fügt sich »easy« zu »wie sie«, »totenstill« zu »Terence Hill« und »aufschrie« nicht so ganz astrein auf »Humphrey«. Zudem unterbricht der Autor den gereimten Erzählfluss immer wieder durch »Metaebenengeschreibsel« und literaturgeschichtliche und -betriebliche Verweise, etwa auf Wolf Haas, dessen Stil er beiläufig parodiert, was ich jetzt aber nicht auch noch zitieren werde, weil ich vielmehr zum Fazit komme: sehr erfreulich und erfrischend, das Ganze, ein Dichtersmann, der Schlatter, das Reimtalent, das hatter. Und eine Art Poetologie auch: »kommt dazu, dass Reimen glücklich macht, / denn Reime produzieren ein Gefühl der Harmonie, / was wiederum im Hirn ein Glückshormon entfacht, / das uns durchströmt, des Reimes willen bis ins Knie.«

 

Mit O-Beinen durchs Leben

Florian Gucher, Zeitschrift «Kultur», Dornbirn, November 2023

Der Schweizer Autor Ralf Schlatter zeigt sich in diesem Roman von der verspielten Seite. Dass er Kabarettist ist, kommt in diesem Werk durch. Tragikomik ist das Schlagwort, das Verbinden von Leichtigkeit mit einer nicht ernst zu nehmenden Schwere sein Grundtenor. So ist es kein Zufall, dass das Buch von einer schwierigen Kindheit mit verstummter Mutter und betrügendem Vater ausgeht und Tod, Leid und Kummer nicht ausspart. Die Geschichte trägt melancholische Züge in sich, wären da nicht die gewitzte Sprache und die Wortspielereien, die die Erzählung zum heiteren Märchen machen. An manchen Stellen erinnert der Plot an die Grimm’schen Märchen, obgleich die Figuren nie ins Schablonenhafte rutschen. Daneben ziehen sich ornithologische Metaphern als Vorboten von Wendepunkten durch. Parallel dazu treiben innere Läuterung und Reisemotive den Handlungsstrang an, sowie dieser sich in die Tradition bewährter Adoleszenzromane einreiht. Was an Simplicissimus, Taugenichts & Co erinnert, ist hier in eine moderne Story verpackt. Nicht nur das hippe Figurenpersonal verfrachtet den Roman ins Hier und Jetzt, auch sprachlich sickert eine jugendliche Frische durch.

 

Gereimte Geschichte

Luca Miozzari, Schaffhauser AZ, 19. Oktober 2023

Henks Geschichte, die der Schaffhauser Autor Ralf Schlatter auf etwas mehr als hundert Seiten erzählt, ist ein modernes Märchen in Kreuzreimform. Es geschehen fantastische Dinge, und irgendwie scheinen die Tiere in der Geschichte stets mehr zu wissen als die Menschen. Oftmals sogar mehr als der Erzähler, der dem Geschehen überfordert hinterherhastet. Eine noch wichtigere Rolle als die Tiere, namentlich Vögel, spielen die Reime. Nicht ohne Grund beginnt der Titel des Buches mit «Des Reimes willen», eine Wendung, die übrigens rund 20 Mal vorkommt. Henk heisst Henk, damit er sich auf «Geschenk» reimt. Heiner heisst Heiner, damit er sich auf «einer» reimt, Cliff auf «Kreuzfahrtschiff» und Johanne ist eine Dänin, damit sie sich auf Mäzenin reimt. Das Primat der Reime lässt erahnen, wie viel Spass der Autor beim Schreiben dieses Buches gehabt haben muss. Und das ist ansteckend, auch wenn es anfangs ein paar Seiten Durchhaltevermögen braucht, bis man sich an die ungewohnte Erzählform gewöhnt hat. Doch allwissende Raben und Wortspiele sind nicht alles, was Schlatters Märchen zu bieten hat. Es spielt in einer komplexen Welt, handelt dementsprechend auch von komplexen Themen. Es geht um «mutterseelalleinerziehende» Mütter, um Alkoholismus und Depressionen, ums Klima. Gewitzt verpackt, immer mit einer gewissen Leichtigkeit, aber stellenweise auch sehr ernst und aufwühlend. Und weil es sich um ein modernes Märchen handelt, mit einem Setting im zeitgenössischen Zürich, bleibt auch die Moral der Geschichte am Ende ambivalent. Henk ist dazu verdammt, sein Jugendtrauma zu wiederholen, er begeht denselben Fehler wie sein Vater. Und doch führt das Ganze zu einem Happy End.

 

zu «43'586 - Ein Schweizer Decamerone»

 

Bis zum letzten Atemzug

Isabella Seemann, Zürcher Tagblatt, 2. November 2022

Inspiriert von der berühmten Novellensammlung «Das Dekameron» reiht der Zürcher Autor und Kabarettist Ralf Schlatter eine Miniatur an die andere, kleine Romane, beliebige Ausschnitte aus dem Leben eines Buchhalters, einer Pastoralassistentin, eines Elektroinstallateurs, und doch hält man mitunter den Atem an, wenn nebenbei die kleine Katastrophe oder das Wunder des Lebens aus dem nächsten Satz springt.

 

Die Zeit, die noch bleibt, mit Novellen vertreiben

Angelika Overath, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 2022

Nicht Scheherazade, die erzählend dem Frauenmorden ihres Königs ein Ende setzte, ist die Vorlage der Geschichtensammlung „43’586“, sondern Boccaccios Zehn-Tage-Werk, in dem, auf der Flucht vor der Pest in Florenz, sieben Männer und drei Frauen auf einem Landgut in Fiesole sich mit Novellen die Zeit vertreiben. Ein „Schweizer Decamerone“ also, inszeniert vom vielfach preisgekrönten Schriftsteller und Kabarettisten Ralf Schlatter, Jahrgang 1971, der im Duo „schön & gut“ (mit der wunderbaren Anna-Katharina Rickert) seit zwanzig Jahren die Binnenexotik des Alltags erkundet. Wer, wenn nicht er, könnte Milieus so sicher lesen und in punktgenauen Pointen die Risse in allen Fassaden entdecken? Und in solider romantischer Tradition ist der Geschichtenreigen an Paulas Sterbebett eingelassen in einen Traum, in dem der Erzähler auf einer einsamen Insel strandet, mit fünf anderen Menschen, die alle etwas Rechtes gelernt haben. Kann doch der Schreiner eine Affenfalle bauen, der Metzger dem Tier die Kehle durchschneiden, die Kindergärtnerin aus Palmblättern Tellerchen flechten, der Buchhalter die Vorräte inventarisieren und die Bankangestellte ein Bonusprogramm für Arbeitsmoral entwickeln. Nur er selbst taugt zu nichts. Bis einmal am Lagerfeuer allen langweilig ist, so ohne Kino und Netflix. Und er zu erzählen beginnt. Von der sterbenden Paula, die nun (und mit ihr die Gestrandeten und auch wir) die schönsten Geschichten zu hören bekommt. Es sind sehr gut gearbeitete Miniaturen, parabelhaft, mit einer kleinen Moral oder offen, nur zum Staunen und Nachdenken. Oder absurd, wenn sich etwa im Zugabteil um eine junge Frau, die in Mozart-Noten blättert, auf einmal die Gratiszeitungen der Mitreisenden in Geigen verwandeln, ein Laptop zu einem Flügel mutiert, aus einer Unihockeytasche eine Oboe wird, aus einem Hotdog eine Querflöte und die junge Frau nun den Dirigierstab hebt und alle Mozarts „Pariser Symphonie“ spielen. Es gibt Liebesgeschichten und Geschichten vom Sterben und andere, in denen Übergänge eine Rolle spielen. Da erzählt eine alte Wanderin etwa, warum sie Gipfel nicht mag. Hingegen liebt sie die natürlichen Wege, die durch die Berge hindurchführen: „den Pass, den Sattel, das Joch, die Fuorcla, das Fürggeli, die Scharte“. Manche Geschichten explodieren wie ein Feuerwerk, andere kreisen leise um eine Katze, etwa um den Friedhofskater Zarathustra. Das kann sehr komisch sein und auch ein wenig traurig. Oder böse, wenn etwa ein Jubilar seine Freunde in den Europapark Rust führt, dort in ein Café bringt, „das als französisches Bistro verkleidet war und gerade Wohlfühlwochen anbot“, um sich heimlich davonzustehlen, wohin wird nicht verraten. (...) Bis das Lagerfeuer nur noch leise flackert, ein Affe im Dschungel schreit – oder war es das Nachbarkind? – und der Erzähler erwacht, um zu guter Letzt das Rätsel des seltsamen Titels dieses menschenfreundlichen Buchs zu lösen.

Hier geht's zur ganzen Rezension.

 

Von der Magie des Erzählens und dem Zauber des Moments

Alexander Vitolic, Schaffhauser Nachrichten, 30. Juli 2022

Eine todkranke Dame wünscht sich vor ihrem Ableben nichts mehr, als dass ihr Geschichten aus dem Leben erzählt werden, von gewöhnlichen Menschen über gewöhnliche Menschen, «vom Pech, vom Gelingen und vom Scheitern, vom Gehen und Ankommen, und gern auch von Liebe». Wieder ist es eine Gruppe Fremder, elf an der Zahl, welche ihr diesen Wunsch erfüllen und erzählen und erzählen, von jenen scheinbar allzu gewöhnlichen Leben, die in einem jener spärlichen Momente der Erkenntnis eine ganz und gar ungewöhnliche Wendung nehmen. Schlatter reiht in seinem verschmitzten Reigen Miniaturen an Miniaturen, und so, dass es schwerfällt, einen einzelnen Plot herauszufischen. Jedenfalls erstehen daraus viel herzerwärmende, allerlei erotische und mitunter auch leicht kitschige Momente, die Lesende wie ein Schluck Zaubertrank über die Schwermut der Welt hinwegsehen und träumen lassen, ohne sie zu verleugnen. Ein bisschen so wie die Maus «Frederick» in Leo Lionnis Kinderbuchklassiker.

 

Ein Festmahl des Erzählens

Hansruedi Kugler, St. Galler Tagblatt, 3. Juli 2022

Im Ralf Schlatters neuem, verspielt-tiefsinnigen Buch «43586» erzählen elf Zufallsbekannte einer Frau in ihren letzten Lebenstagen unzählige Geschichten, die das Leben feiern. Schlatter liefert sie pointensicher als witzige Verbeugung vor Boccaccios Dekamerone.

Nein, es ist nicht wie bei Giovanni Boccaccio die Pest, welche diese elf Menschen zusammenführt. Sie versammeln sich auch nicht in einer Villa vor den Toren von Florenz, sondern an Paulas Sterbebett im Alters- und Pflegeheim Frohburg. Nur schon dieser Name: Frohburg! Man merkt: Hier spielt einer überdeutlich mit Ironie. Aber Ralf Schlatter präsentiert schliesslich ein Schweizer Dekamerone der Gegenwart, das mehr schrullig und liebevoll ist als derb wie in Boccaccios Mittelalter.

Der Schaffhauser Kabarettist, der mit seiner Partnerin im Duo Schön&Gut seit Jahren auf den Kleinkunstbühnen steht, hat den Literaturklassiker offenbar bestens gelesen. Nur: Während Boccaccios vor der Pest Geflüchtete die nahe Todesgefahr mit einer rhetorischen Feier der Wollust verdrängen, will diese Paula Geschichten hören «vom Glück, von der Liebe, von wahrer oder falscher Freundschaft, vom wahren oder falschen Leben, vom wahren oder falschen Ich, von der Zeit und ruhig auch vom Tod». Sie will nicht nochmals das eigene Leben an sich vorbeiziehen lassen, sondern das Lebensganze in allen Variationen sich erzählen lassen.

Und sie hört erfreulicherweise mit Humor, Aufmüpfigkeit und Versöhnung zu. Das klingt dann so: Paula liegt mit unheilbarem Krebs im Bett und sagt «In Ordnung, wenn ich meinem Karzinom Pankraz sage?, griechisch ‹Der Allmächtige›.» Die Ärztin kennt nur Gottfried Kellers ‹Pankraz, der Schmoller›. Auch gut, meint Paula: «Pankraz, der allmächtige Schmoller, in einer Woche ist sein Namenstag.»

Paula ruft nun wildfremde Menschen an, deren Namenstage auf die Folgewoche fallen. Und tatsächlich kommen elf Leute. Sie heissen Ida, Volkmar, Theresia, Notker und sind Kindergärtnerin, Buchhalter, Apothekerin, Geschichtslehrer. Dass sich einige beim fabulierenden Erzählen an Paulas Sterbebett allmählich näher kommen, ist eine sehr schöne Pointe.

Die vielen pointensicheren Geschichten, die sie über Liebe, Tod, Reisen, magische Menschen, Glück und Scheitern erzählen, zieht Schlatter aus der Schatztruhe des erfahrenen Kabarettisten. Sie sind skurril, romantisch, wehmütig: Anton etwa glaubt, er lebe nur noch einen Tag, hebt alles Geld ab, wird dieses aber nicht los, weil alle, sogar die Prostituierte, so grosszügig sind und alles gratis machen. Oder Elisabeth, die das Elixier für ewiges Leben gefunden hat, dieses aber nur ihrer Katze zu trinken gibt und es danach vernichtet. Blödelei kann Schlatter auch: Etwa wenn er von Jonas erzählt, der mit seiner Freundin in Bhutan glücklich sein will, die das nicht versteht, er darauf beim Kauf einer Butangasflasche eine Frau aus Buttenheim kennenlernt – und Bhutan vergisst.

Das dies alles als Erfindung eines im Traum Schiffbrüchigen geschieht, mag man als eine überflüssige Spielerei ansehen. Aber Schlatter spielt einfach wahnsinnig gerne. Deshalb auch sein Titel, über den man lange rätselt: «43'586». Es ist die Anzahl der Wörter seines Buches. Es ist gleichzeitig die Anzahl der Abschiedswörter, die Paula bis zum letzten Atemzug begleiten und sie mit dem Sterben versöhnen. Was für eine rührende, tolle Funktion der Literatur!

 

Ralf Schlatter: 43'586.

Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag, 26. Juni 2022

Ein Mann träumt, er trage in einer Gruppe Schiffbrüchiger nichts zum Überleben bei. Bis es Abend wird und die Runde nach Unterhaltung dürstet. Da packt er sein Talent aus - und fängt an zu erzählen. Und damit fängt es an. Eine Frau, der noch wenige Tage bleiben, ruft elf Wildfremde in die beiden letzten Zimmer ihres 'einen Lebens'. Sie sollen ihr letztes Stündchen mit Geschichten bevölkern. Und der Fahrlehrer oder die Krankenpflegerin erzählen von dem, was das Leben am Ende ausmacht, vom Tod, von der Liebe, vom Glück und von der Freundschaft. Es sind lebenspralle Geschichten (die ein paar Adjektive weniger verdient hätten), die Ralf Schlatter in diesem Erzählreigen, der sich Giovanni Boccaccio zum Paten im Geiste auserkoren hat, vor dem Leser ausbreitet. Ein elegantes, unaufgeregtes Buch, das versucht, sich im Angesicht des Todes einen Reim aufs Leben zu machen.

 

Von der Notwendigkeit des Erzählens

Florian Gucher, Kulturzeitschrift Dornbirn, Juni 2022

In Ralf Schlatters neuem Werk wird über Banales gescherzt, über Absurdes gelacht, über Skurriles gewundert und vor allem eines: erzählt, bis buchstäblich der Atem erlischt. Vieles im 208 Seiten umfassenden Band mutet wie ein Parforceritt durch Raum und Zeit an, mit dem Wissen im Hinterkopf, dass es von jetzt auf gleich vorbei sein könnte. So geht es Schlag auf Schlag, bleibt kaum Gelegenheit Luft zu holen, wenn die Zeit drängt. Das alles mit einer gewissen Dringlichkeit im Gedächtnis, das Leben zu feiern und bis aufs Äußerste auszukosten und bereichert mit der lebenserhaltenden Notwendigkeit des Erzählens im Gepäck. Vieles im Buch geht ganz nah und trifft uns an wunden Punkten. Der Schweizer Autor nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn er den Tod als Teil des Lebens einführt, oft mit grotesken Szenen verstrickt, demonstrierend, dass er uns nähersteht als man meinen möchte. Doch zeitgleich liest sich das Werk wie eine Hymne an das Leben als Vergegenwärtigung kleiner Alltagssituationen mit großem Wert, die träumerisch ausgleiten und abdriften, sodass sie in anderen Sphären ankommen. Besteht nicht ein Großteil unseres Lebens aus Fantasie und Traum?

 

Stilles Wasser oder mit Gas?

Nora Leutert, Schaffhauser AZ, 2. Juni 2022

Dieses Buch ist wie ein Glas Wasser. Eins, das man abends neben sich auf das Nachttischchen stellt. Vielleicht bleibt es unangerührt, vielleicht nimmt man einen Schluck. Jedenfalls weiss man es gerne da, falls man plötzlich Durst kriegt. Es sind kurze schicksalshafte, auch phantastische Begebenheiten, die die Leserschaft für einen kurzen Moment aus dem hektischen Alltag herausholen. Der Text ist fein komponiert, die Geschichten sind nicht einfach gesammelt, sondern in eine Rahmenerzählung eingebettet respektive in drei ineinander geschachtelte: Einer erzählt, dass er träumt, auf einer einsamen Insel gestrandet zu sein, wo er einer Runde Menschen von einer Runde Menschen erzählt, die einer sterbenden Frau im Altersheim Geschichten erzählen. Schlatters poetisches Gespür für literarische Komposition, wie er es zuletzt in seinem Roman Muttertag bewies, wird auch hier deutlich. Das Werk ist eine Fürsprache für die Unentbehrlichkeit des Erzählens.

 

43'586

Robert Renk, Büchermagazin Wagner'sche Buchhandlung, Innsbruck, April 2022

Wie wäre es, wenn man eine begrenzte Anzahl Wörter zur Verfügung hätte. Dann hätten die Vielreder und Schaumschläger früher ausgeredet als die Besonnenen und Überlegten. Eine der kleinen Utopien in diesem Erzählschatzkasten. Radio- und Kurzgeschichten aus über 20 Jahren, überarbeitet, poliert und mit Schweizer Humor eingefettet. Schlatter bettet sie in eine Rahmenhandlung, die ein wenig an 1001 Nacht erinnert, die im Krankenzimmer oder auf einer Insel spielen und durchaus auch zu berühren wissen. Grossartig!

 

zu «11 Leben» auf der App «Songmapp»

 

Als ob die Ohren ins Theater gingen

Thomas Wyss, Zürcher Tages-Anzeiger, 15. Juni 2022

Wenig später stehe ich mitten auf dem Friedhof Sihlfeld, neben den Kindergräbern. Es ist die letzte Station von Ralf Schlatters Kurzgeschichtensammlung. Im Begleittext steht: «11 Leben: Vom Säugling Ursin bis zur Greisin Erika. Von der Maternité bis zum Friedhof. Elf Facetten des Menschseins, jetzt, hier, in zwei Stunden, bergab. Und eine Amsel, die sie alle begleitet.» Ich beginne also zufällig am Ende. Und frage mich, ob das funktioniert. Bereits mit dem ersten Satz hat mich der Autor erwischt. «Merle starb keine zehn Minuten nach der Geburt.» Während ich bewegt mithöre, wie Schlatter Merles nie stattgefundenes Leben vor mir ausbreitet, suche ich gebannt nach ihrem oder seinem Grab – der Name geht für beide Geschlechter – und finde: nichts. Die zauberhafte Geschichte, so real sie klingt, ist Fiktion. An der Gutstrasse in Wiedikon steht die nächste Songmapp-Bühne. Schauplatz ist das real existierende Kafi Guet, Held der Story der (wahrscheinlich) erfundene Paul, der hier täglich am gleichen Tischchen rechts vom Eingang den «Blick» liest, seinen Kaffee trinkt, und dann und wann an jenen Ort denkt, wo sich sein Herz einst geborgen fühlte. Wie sich diese Sentimentalität langsam in Hoffnung verkehrt, sei nicht verraten, ein anderes Geheimnis aber schon: Das Kafi Guet ohne Paul? Kann man sich nach diesem Vortrag nicht mehr vorstellen.

 

zu «Muttertag»

 

Muttertag

Muriel Düby, exit Info 4.21, Oktober 2021

Ralf Schlatter hinterfragt kritisch starre Familienstrukturen und regt zum Blick hinter die Fassade an. Humorvoll und empathisch verdeutlicht er, wie wichtig Wahrhaftigkeit im menschlichen Zusammenleben ist. EXIT-Prädikat: tiefschürfend.

 

Muttertag

Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag, 26. September 2021

Dieser Text muss mit einer Entschuldigung beginnen. Dieser kleine Roman ist schon vergangenes Jahr erschienen – und wir haben ihn übersehen. Das ist unverzeihlich, gelingt Ralf Schlatter in diesem Text doch ganz Wunderbares. Er lässt einen Sohn am 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, frühmorgens zu seiner Mutter laufen – er soll ihr abends den Schierlingsbecher reichen, damit die Todkranke aus dem Leben scheiden kann. Auf der Wanderung von Zürich nach Schaffhausen lässt der Sohn seine Beziehung zur Mutter Revue passieren – und merkt, dass er eigentlich nichts weiss über die Frau, die ihn geboren hat, das Leben aber wie eine Theaterrolle vor sich hergetragen hat. Bloss, auch der Sohn «ist nicht über alle Zweifel erhaben», stellt sich die Frage: Wer ist er und wer nicht? So ist ein Text entstanden, der es sich nie einfach macht, aber immer leicht bleibt.

 

Lauter Abschiede

Christopher Zimmer, surprise, 27. August 2021

Ralf Schlatter versteht es, von all dem Schmerzlichen, Versäumten und Ungesagten mit erstaunlicher Leichtigkeit und feinem Humor zu erzählen. Dadurch nimmt er dem Schweren zwar nicht das Gewicht, aber das Erdrückende. Die Lebenshaltung der Elterngeneration mag dabei zeitbedingt sein, die Probleme sind es nicht. Es kann also durchaus sein, dass einem bei der Lektüre das Echo des eigenen Lebens entgegenhallt.

 

Was würden denn die Leute sagen?

Bigna Hauser, Denkbilder, Germanistikmagazin der Universität Zürich, Mai 2021

Indem der Schluss unerwartet offen bleibt und keine der Figuren leichtfertig moralisch Oberhand gewinnt, schafft Schlatter es, Licht ins Dunkel verstrickter Familiendynamiken zu bringen. Und auch wenn die Beine immer schwerer werden, bleibt die Sprache leicht und humorvoll. So gelingt es beinahe beiläufig, das Paradox zu sezieren: Die kleinbürgerliche Enge, in der es wohlig warm und gleichzeitig bis zum Anschlag unbequem und irgendwie auch einsam ist. Und immer wieder fühlt man sich ertappt, als hätte Schlatter nicht nur hinter die Kulissen seiner eigenen Familienfeier und Ahnenreihe geschaut, als würde er auch Licht ins Dunkel anderer familiären Verstrickungen bringen. Beinahe reflexartig stellt sich einem beim Verdacht, dass bisher gut gehütete Geheimnisse gelüftet werden, diese vielleicht urschweizerische Frage: «Was würden denn die Leute sagen?» Der Sohn findet darauf eine passende Antwort: «Was weiss ich, was die Leute sagen würden. Es ist mir offen gesagt mittlerweile scheissegal. Aber meine Güte, es war ein weiter Weg bis dahin.» Von Zürich bis nach Schaffhausen, gewissermassen.

 

Auf dem langen Weg zur Mutter

Urs Wigger, Entlebucher Anzeiger, 18. Mai 2021

Das schmale Buch liest sich leicht. Wohl auch, weil es unterlegt ist mit dezentem Humor. Aber es klingt nach. Denn es legt offen, was in scheinbar gut funktionierenden Familien abläuft. Verhaltensmuster werden freigelegt, Festgefahrenes wird benannt und infrage gestellt. Der Sohn führt sein Gespräch mit der Mutter schonungslos ehrlich. Er klagt nicht an. Aber er bedauert, dass vieles unausgesprochen blieb, dass sie einiges verpasst haben, dass sie einander ihr Innenleben nicht gezeigt haben. Ob es jetzt zu spät ist, wo Mutters Ende naht?

 

Muttertag

daslieblingsbuch.ch, Empfehlung von Daniela Binder, Obergass Bücher, Winterthur, März 2021

Dieses kleine, von aussen schlichte Buch hat mich umgehauen! Wie Ralf Schlatter die Fussreise des Protagonisten von Zürich nach Schaffhausen beschreibt, am Ende des Weges steht der begleitete Freitod seiner Mutter, ist grosse Literatur. Mich hat seine Sprache begeistert, die versteckte Philosophie zwischen den Zeilen, sein Humor und vor allem, was das Buch ganz persönlich mit mir gemacht hat. Für mich ein typisches “Buchhändlerinnenbuch”, welches von der persönlichen Empfehlung lebt – und mit vielen Feedbacks belohnt wird.

 

«Auch die Fantasie ist autobiografisch»

Interview mit Ralf Schlatter, Schaffhauser Nachrichten, 29. Januar 2021

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Eines Tages ist alles vorbei

Frank Keil, keilbuero.de, maennerwege.de, Männerbuch der Woche, 30. Januar 2021

»Muttertag« ist ein großer, farbenprächtiger Monolog. Ein öffentliches Selbstgespräch eines Sohnes, der sich Kilometer für Kilometer seine Mutterwut abwandern will und der doch immer mehr anhäuft, das sich auf seine Schultern setzt. Und so ringt und wütet er, flucht, schimpft und klagt der Sohn, während des Mutters Lebenszeit abläuft. Was hat die Mutter nicht alles verpasst, die sich eingerichtet hat in ein demütiges Leben wie viele Frauen ihrer Generation, rechtschaffen und bieder und immer angepasst – und am Ende auch verloren? Und was haben sie beide daher nicht alles nicht erlebt? Die große Anstrengung eines bemühten Lebens wird sichtbar, wird erzählbar, immer mehr fällt dem Sohn ein, fällt ihm vor die Füße, während er tapfer ausschreitet, von Stadt zu Stadt und Landstrich zu Landstrich, längst hat er Blasen an den Füßen, aber er gibt nicht auf, er nicht (die Schweizer Vogelwelt spielt auch eine Rolle). Ralf Schlatter ist nicht nur Romanautor, sondern auch Kabarettist, und so ist dieser Text in seiner Stringenz von einer wahren Komik durchzogen, die von großer Fallhöhe lebt; bitter ist seine Schreibe und auch kurz unerbittlich, dann wieder von feiner Ironie durchzogen, auch spottgetränkt, es spitzt sich zu – und zugleich ist da stets ein tiefer Wunsch nach Verbindung, nach Zuneigung, nach dem so schwer fallenden Verzeihen am Lebensende, wenn es ernst gemeint ist und nicht sentimental beabsichtigt; ist da der Wunsch nach einem ganz anderen Leben, jetzt wo es zu Ende sein soll; jetzt, wo bald unumkehrbar ist, was doch hätte ganz anders sein können, schon riecht er den Rhein, unser wandernder Sohn.

 

Darf der das?

Nora Leutert, Schaffhauser AZ, 5. November 2020

Dieses Buch macht eigentlich nichts Unerhörtes. Und doch provoziert es. Nur ein bisschen. Aber stetig. Ein erwachsener Sohn, aufgewachsen in relativ durchschnittlichen schweizerischen Familienverhältnissen im Einfamilienhausviertel, denkt über seine Mutter nach. Und das provoziert. Denn Mütter sind niemandem gleichgültig. Schon gar nicht, wenn, wie hier, schonungslos über eine liebende Mutter gerichtet wird. Eine, die auf dem Sterbebett liegt. Autor und Kabarettist Ralf Schlatter (wohnhaft in Zürich, geboren 1971 in Schaffhausen) schickt den Protagonisten seines neuen Romans auf den letzten Gang zur Mutter. Sie will sterben, am längsten Tag des Jahres, abends um halb zehn, und sie hat ihren Sohn gerufen, damit er ihr dabei helfe. Auf dem Weg dahin, zu Fuss von Zürich nach Schaffhausen, nimmt er Abschied von ihr und sucht nach Antworten auf die Fragen, wieso er sie trotz ihrer lebenslangen Aufopferung nicht zurückliebt. Denn, so sagt der Sohn: «Das ist ja das Verrückte, nicht wahr, Mutter: Man wird die Mutter nicht los. Das ganze Leben lang nicht. Warum bist du mir zeitlebens nicht gleichgültig geworden?» Es ist eine Abrechnung. Und da schaut man genau hin als Leserin, das schluckt man nicht einfach, vertraut dem Sohn nicht blind. Seine Abrechnung ist zwar nicht böswillig, im Gegenteil, sie ist gleichzeitig eine Annäherung an die Mutter. An sie, die für Familie und Haus den Lehrerinnenberuf aufgab. Und die dem Sohn ein Leben lang fremd blieb in ihrem Harmoniebestreben und ihrem aufgesetzten, überschwänglichen Gehabe. Und doch: Muss der Sohn so hart zur Mutter sein? Darf er das? Verkennt er sie nicht, indem er alles, was sie tat, auf sich bezieht oder auf den Vater? Und wenn es denn so war: Weiss er wirklich etwas vom Muttersein, von Mutterliebe? Während die Mutter selbst nichts entgegnen kann, der Sohn spricht nur in seinen Gedanken zu ihr, lässt man sich als Leserin auf die Diskussion mit ihm ein, man urteilt mit. Und das ist eine Stärke von Ralf Schlatters Roman: Er regt wirklich zum Denken an. Das liegt auch daran, dass einem das Sittenbild, das Schlatter entwirft, vertraut oder bekannt oder zumindest plausibel vorkommt. So treffend seziert der Autor die klassische helvetische Mentalität rund um den undurchdringlichen Kreis der bürgerlichen Kernfamilie. Dabei steht die Analyse im Vordergrund, das Erzählte wirkt teilweise fast schon etwas beispielhaft, die Personen leicht schematisch. Es ist kein Roman, der einen mit lebhaften Bildern in Geschehnisse und Begegnungen mit Menschen abtauchen lässt, vielleicht ist es fast mehr Erzählung als Roman. Das heisst aber nicht, dass dieses Buch kein Lesegenuss wäre, im Gegenteil: Die Form steht bei Wortkünstler Ralf Schlatter auch hier ganz oben. Der Gedankenstrom wird im poetischen Sprachfluss geführt und zusammen mit dem Schritt des Wanderers, den schmerzenden Füssen, wird er zum in sich geschlossenen Abschiedsritual. Das ist stimmig und überzeugt literarisch. Ein anregendes Buch durch und durch.

 

Abschied von der Portalfigur

Beat Mazenauer, viceversalittérature.ch, 26. Oktober 2020

Sprachlich folgt die unerwiderte innere Zwiesprache gewissermassen der Bewegung des endlosen Gehens, wie in einer Trance. Die Schritte geben sprachlich den Takt vor. Kreuz und quer, mal nüchtern sachlich, mal erregt aufbrausend ob all der verpassten Chancen, immer wieder auch mit ironischer Distanz. Ralf Schlatter porträtiert mit seinem Erinnerungsstrom träfe und genau die Einfamilienhaussiedlung in den 1970er Jahren, als der eigene Traum vom Glück nur auf Kosten der Nachbarschaft glücken konnte. Man trachtete danach, «jemand zu sein», zugleich war man gefangen in der Angst, «die Leute würden das entdecken». Nochmals spürt der Erzähler «die Traurigkeit und die Einsamkeit in unserer Familie, alle auf ihrem eigenen Planeten».

 

«Muttertag» - Roman von Ralf Schlatter

Raffaela Rudigier, KULTUR - Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft, Dornbirn, September 2020

Das macht diese Geschichte spannend: Da traut sich doch tatsächlich einer aufzubegehren, obwohl es objektiv gesehen keinen Grund zur Beschwerde gibt. Da stellt sich die Frage – und die stellt sich der Erzähler durchaus auch selbst – sind das nur unbedeutende „first-world-problems“? Genau hier liegt die Stärke dieser Geschichte, dass es nämlich ein Mann wagt, offen über verletzte Gefühle zu reden. Ralf Schlatter erzählt mit viel Feingespür und Humor und versteht es, banale Beobachtungen zu größeren Gedanken werden zu lassen. „Am Eingang eines Spielplatzes steht ein Schild. Darauf steht geschrieben Hunde anleinen, Kinder im Auge behalten, Abfall fachgerecht entsorgen, Rücksicht nehmen auf Anwesende und AnwohnerInnen, Mensch und Tier, Spielplatz: Helm ab, Erstickungsrisiko beim Hängenbleiben an Spielgeräten. Ich frage mich, wie man in diesem Land eigentlich frei sein soll. In einem der angeblich freisten Länder der Welt.“ Ob man sich von seinen Müttern, Familien und Ahnen je befreien kann, sei dahingestellt. Der Autor wartet diesbezüglich jedenfalls mit überraschenden Ideen auf. „Muttertag“ von Ralf Schlatter dekonstruiert die klassische Familie und gräbt tief auf der Suche nach Wahrhaftigkeit im menschlichen Zusammenleben.

 

zu «Margarethe geht»

 

Margarethe geht

Manuela Hofstätter, lesefieber.ch, 5. Juni 2019

Ralf Schlatters Bilderbuch ist ein feinfühliges Gesamtkunstwerk, der Mann kann vieles, Zeichnen nach meiner Meinung auch ganz bezaubernd. Die poetische Geschichte über das Ausziehen der Blumenwiese Margarethe schenkt uns leise Zwischentöne, ermuntert etwas zu unternehmen, wenn man traurig ist, berichtet über das Mutigsein und die Neugierde zu haben, mit anderen Daseinsformen zu kommunizieren. Plötzlich ist sich Margarethe auch bewusst, vieles ist schön und gut bei ihr und doch wagt sie einen Neuanfang. Auch ein feiner Schalk zieht durch die Geschichte und macht sie für mich somit zu einem wertvollen Geschenk für Kinder aber auch alle Erwachsenen, sie liefert Gesprächsstoff zwischen den Generationen und nicht zuletzt eignet sie sich als ultimativ romantisches Buch für Männer, die ihrer Liebsten eine ganz besondere Liebeserklärung machen möchten. Ein Tausendsassa, dieser Herr Schlatter!

 

Mit fliegenden Blumenröcken

Christopher Zimmer, Strassenmagazin «surprise», Juni 2019

Ein Wesen - ganz gleich, ob Pflanze, Mensch oder Tier - ist nicht zufrieden mit dem, was es hat, mit dem Ort, an dem es lebt, oder mit dem, was es ist. Gründe für Unzufriedenheit und Sehnsüchte, heimliche oder ausgesprochene, finden sich immer. Wird daraus eine Geschichte, folgt sie meist einem gängigen Muster: Nach Auf- und Ausbruch und allerlei Abenteuern auf der Reise an den Ort, an dem alles anders und besser sein soll, wird der Protagonist von der Realität eingeholt. Das Ferne erfüllt nicht die Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen. Am Ende steht die Rückkehr in das zurückgelassene Vertraute, und der Held übt sich in Einsicht und Selbstbescheidung. «Margarethe geht» von Ralf Schlatter hält sich nicht an gängige Muster. Das beginnt schon mit der Protagonistin seiner Geschichte: einer Wiese! Und auch noch einer, die Margarethe heisst. Nun, auch diese Wiese ist unzufrieden und entwickelt Neugier und Sehnsüchte: nach dem, was hinter dem Hügel liegt, nach dem Fluss, den sie rauschen hört, und danach, wie die Welt wohl von oben aussieht. Also beschliesst Margarethe, auszuwandern. Sie fasst ihre vier Ecken, rafft ihre bunten Blumenröcke zusammen und ... geht auf und davon. Viel mehr soll hier nicht verraten werden. Nur, wie eingangs schon angedeutet: Es geht ganz anders aus als erwartet, und das Ende ist so poetisch wie der Beginn. Und was gäbe es schon Poetischeres als eine Wiese auf Reisen. Eine Wiese mit fliegenden Blumenröcken, die jeden Frühling gleich jung ist und jeden Herbst gleich alt. Ralf Schlatter, bekannt als Autor, zuletzt 2017 mit «Steingrubers Jahr», und als Kabarettist mit dem Duo «schön&gut», hat mit seinem ersten Kinderbuch «Margarethe geht» eine fantasievolle Geschichte für Gross und Klein geschrieben, für das stille Schmökern, das gemeinsame Blättern oder zum Vorlesen. Eine Geschichte, die nicht zuletzt wegen ihrer wunderbaren Pointe eigentlich auch den Stoff zu einem Chanson liefern könnte, einem Chanson, wie es etwa ein Berner Troubadour hätte ersinnen und singen können. Und dann ist die Geschichte auch noch von Ralf Schlatter eigenhändig illustriert worden. Mit einer gelungenen Mischung aus schlichter Skizze, detailfreudiger Naturtreue und eindrücklichen Gestaltungsideen. Und so farbenfroh, dass man sich allzu gerne Margarethe anschliessen möchte, um mit ihr gemeinsam, mit fliegenden Blumenröcken, gängigen Mustern zu entgehen.

 

Margarethe geht

Helmuth Schönauer, Innsbruck, schoenauer-literatur.com, April 2019

Kinderbücher werden zwar für den Leseumgang mit Kindern verwendet, dienen aber vor allem den Erwachsenen zur Analyse ihres gesellschaftlichen Zustandes. Obendrein werden Kinderbücher von Erwachsenen gemacht, gekauft und rezensiert. Grund genug, sich als Erwachsener zwischendurch mit Kinderbüchern zu beschäftigen. Ralf Schlatter ist ein Grenzgänger zwischen Tagtraum und Tageslicht. Ganz im Sinne des Schweizer luziden Impressionismus eines Robert Walser setzt er selbstverständliche Dinge in ein seltsames Licht und macht sie durchsichtig. Oder er schaut frisch gleich auf die Hinterseite der Protagonisten und gibt ihnen einen hintersinnigen dramaturgischen Auftrag. Kinderbücher imponieren im ersten Anblättern durch die Illustrizität. Was lässt sich realistisch verfremden? Was liegt hinter Schattierungen und abgeschwächten Linien? Was versteckt sich in einem Haufen von Ereignissen und Mikrokosmen? Ein gutes Kinderbuch ist fast immer eine Art Wimmelbuch, worin sich die dargebotenen Dinge gegenseitig ins Licht stellen und man mit dem Finger nicht mehr nachkommt: Schau da! Schau dort! Und was ist in einer Zeit, in der Bienen und Insekten mit Volksbegehren gerettet werden müssen, üppiger und prunkvoller als eine Wiese, die man meist nur mehr vom Hörensagen kennt? Man ahnt es schon, die Wiese im Kinderbuch ist eine besondere Wiese, die sich durchaus eine Monographie verdient hat. Zumal die Wiese eine komplette Heldin ist mit Gefühlen, Weisheit und Charme. Außerdem hat sie einen Namen: Margarethe. Margarethe hat allerhand zu tun, dass sie immer der Jahreszeit entsprechend gekleidet ist. Bei ihr ist Gastfreundschaft groß geschrieben, Insekten, Gräser, Blüten kommen und gehen, nachdem sie einen Schwatz gehalten haben. Alle erzählen von einer Welt, die außerhalb der Wiese liegt. So ist es kein Wunder, dass Margarethe eines Tages den Entschluss fasst, auszuwandern. Sie streckt ihre Arme aus und packt sich selbst an allen vier Ecken und wandert aus.

Als Wiese hat Margarethe ein Auge für die wesentlichen Dinge dieser Welt. Einmal ist es ein Fluss, der die Weisheit verströmt, alles fließt. Und zum zweiten ist es der Wald, der die gute Erkenntnis verströmt: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Allmählich schlägt sich die Welt auf das Gemüt der Wiese. Allenthalben wird Nachwuchs produziert und verteidigt, ständig gibt es einen Kampf um Futter, und auch die Jahreszeiten sind oft große Hindernisse für ein geruhsames Leben. Es stellt sich langsam die Frage, ob Auswandern eine gute Idee gewesen ist. Bei Sonnenuntergang kommt der Wiese die rettende Idee. Margarethe wird durch das Ohr in das Innere einer Frau schlüpfen und als Frau die Welt verzaubern. „Und so kam es, dass Margarethe fortan im Kopf der Frau lebte. Das ganze Jahr über blühte sie und erstrahlte in ihrer vollen Pracht. Die sah man aber nur, wenn man der Frau lange in die Augen sah. Oder sie ebenso lange küsste.“ Als Kenner der Schweizer Literatur merkt man sofort: Das ist pure erotische Literatur. So wird in der Schweiz geflirtet, angebetet und gelitten! Kauzig wie ein Robert Walser.

 

Albisrieder Kabarettist mit Kinderbuch

Alexander Vitolic, Zürich West, 28. März 2019

Fragen Sie gleich: Ist es lustig? Antworten wir so: Die höflich düpierte Komik von «schön&gut» findet sich in diesem Buch nicht, dessen aus der Zeit gefallene, lyrische Alltagsverdichtung hingegen schon. «Margarethe geht» ist die Geschichte einer neugierigen Blumenwiese, die Reissaus nimmt, weil sie herausfinden will, «was auf der anderen Seite des Hügels ist, wohin der Fluss fliesst, den sie von weitem rauschen hört, und wie die Welt wohl von hoch oben aussieht. Also nimmt sie ihre vier Ecken zusammen und geht.» Auf ihrer Reise trifft sie Frösche, Bäume und Vögel, Vorzüge der Lage und Lebensweise werden mit feiner Ironie besprochen, und am Ende lernt Margarethe etwas über die Liebe. Ralf Schlatter hat seinem ersten Kinderbuch eine sehr poetische Note gegeben: Mit feinem Strich und viel Liebe zum Detail erzählt er die Geschichte der Wiese auf Entdeckungsreise. Sprache und Bilder sind weit weg von popkulturellen Anspielungen und anbiedernden Spässen, stellen dabei aber auch eine Herausforderung an die vorlesenden Eltern, wenn etwa ein Wald erklärt: «Wo Licht ist, ist auch Schatten.» Die Geschichte habe er im Ansatz schon in seinem ersten Roman «Federseel» vor 20 Jahren entworfen, erzählt Ralf Schlatter im Gespräch mit «Zürich West». «Meine Lektorin sagte mir damals, das rufe nach einem Kinderbuch. Es dauerte aber Jahre, bis ich die Idee wieder aufgriff und nach einem Illustrationskurs an der F+F auch umzusetzen wagte. Die Bildwelt im Kopf aufs Papier zu bringen in der grösstmöglichen Einheit von Bild und Text, sei eine abenteuerliche Erfahrung gewesen. Explizit an Kinder dachte er dabei gar nicht: «Im Kopf hatte ich alle Menschen, die fähig sind, sich auf die Kraft und Freiheit der Fantasie einzulassen. Die Kleinen natürlich und die inneren Kinder der Grossen.»

 

zu «Steingrubers Jahr»

 

Bittersüsse Anekdoten

Karl Kümin, Kulturtipp, Juli 2017 

Der Schaffhauser Autor Schlatter blickt in die Seele ei­nes Langweilers, der die Wi­dersprüche des Lebens mit vol­ler Wucht zu spüren bekommt. Knackig, witzig, frech: ein Buch voll bittersüsser Anekdoten über Sinn und Unsinn des Lebens.

 

Jess Jochimsens Literatur-Tipps 2017

Jess Jochimsen, Autor und Kabarettist, jessjochimsen.de, Juli 2017 

Ralf Schlatter, dem mit «Sagte Liesegang» vor zwei Jahren mein absolutes Lieblingsbuch 2015 gelang, hat ein neues Buch geschrieben, ein Tagebuch-Buch diesmal, und es ist wiederum sensationell geworden. Anrührend, poetisch und extrem witzig. Felix Steingruber, Katzenhalter, Kammerjäger und Junggeselle führt kein spektakuläres Leben, bis ein seltsamer Traum ihn zwingt, ein Jahr lang Tagebuch zu führen. Und dieses Jahr wird einzigartig. Selten wurden Nebensächlichkeiten, Alltägliches, Anekdoten, aber eben auch Glück und Verlust so lakonisch und schön beschrieben wie hier. Meine Lieblingsstelle: „Mit Mutter im Zoo. Keine Ahnung, warum. Hunderte von anderen Menschen auch im Zoo. Um ein Vielfaches mehr Menschen gesehen als Tiere. Dann habe ich plötzlich angefangen, die Menschen als Tiere zu sehen. Mutter war ein Gnu.“ Nein, die: „Und dann die Geschichte von dem, der sich im Wald draußen erhängen wollte, sich einen Baum aussuchte, den Strick festband und dann doch noch ein letztes Bier trinken ging und noch eins und noch eins, und dann ging er zurück in den Wald und fand beim besten Willen den Baum mit dem Strick nicht mehr.“

 

In der Lebensmühle

Christopher Zimmer, surprise, Strassenmagazin, 30. Juni 2017 

Der Schweizer Ralf Schlatter ist ein mehrfach preisgekrönter Kabarettist, der immer auch literarisch ist, und ein Autor, in dessen Texten man wiederum unschwer den Kabarettisten erkennt. Das macht das Lesen des schmalen, schön und licht gestalteten Bändchens durchaus vergnüglich. Dennoch ist in «Steingrubers Jahr», bei aller Poesie und allem Witz, recht düster und verzweifelt, was sich der Protagonist da von der Seele schreibt. Ein tragikomischer Tagebuch-Roman, der unerbittlich bohrt und fragt. Und wenn wir das lesen? Lesen wir uns dabei dann auch so manches von der Seele? Es lohnt sich, diesen Versuch zu machen.

 

Steingrubers Jahr

Dagmar Härter, Deutscher Bibliotheksservice, Mai 2017 

In die sparsamen Tagebuchaufzeichnungen seines Protagonisten steckt Autor und Kabarettist Schlatter alle Komik, Tragik und Absurdität der menschlichen Existenz, verpackt in die banalen Kleinigkeiten des Alltags und in lakonischen Worten skizziert von einem, der selbst eher Beobachter ist und dennoch irgendwie immer auf der Suche nach dem Sinn. Feine, kluge und sensibel-humorvolle Lektüre. Dazu passend ein filigranes, feinwitziges Coverbild.

 

«Kann man so machen»

Andrina Wanner, schaffhauser az, 11. Mai 2017 

Anfangs will man nicht so recht warm werden mit diesem 54-jährigen tagebuchschreibenden Kammerjäger, den Autor Ralf Schlatter über Sinn und Unsinn des Seins grübeln lässt. Aber dann faszinieren sie einen doch, die unspektakulären und trotzdem wunderlich-grandiosen Gedanken und Beobachtungen, die den Protagonisten umtreiben. Genau wie seine Romanfigur hatte Ralf Schlatter im Vorfeld ein Jahr lang (es war 2013) jeden Tag aufgeschrieben, was er gesehen und erlebt hatte, auch wenn es nur das Wetter war. Aus diesen Einträgen konstruierte er die Geschichte um den Kammerjäger, der zum Schluss kommt, dass es - eigentlich wenig überraschend - immer um die Liebe geht. Aber wie!

 

Liebe, Tod und Ameiseneier

Ulrich Schweizer, Schaffhauser Nachrichten, 26. April 2017 

«Am Ende geht es immer um die Liebe», trägt Steingruber in sein Tagebuch ein. Und um Leben und Tod, wie man beim Lesen von Ralf Schlatters neuem Roman feststellt. Der Autor versteht es, Todtrauriges und Groteskes, tiefen Ernst und Komik mit leichter Hand zusammenzuführen.

 

zu «Sagte Liesegang»

 

Gewitzt

Berner Zeitung, 24. Januar 2014 

In bildhaftem Detail evoziert Liesegang seine Kindheit mit einem schweigenden Vater, einer verschwundenen Mutter, einem toten Bruder. Und schweift ab in originelle, oft witzige Überlegungen. Die lyrische Musikalität der Sprache trägt einen mühelos über die langen Sätze des Monologs hinweg. Mit «Sagte Liesegang» ist dem 42-jährigen Schaffhauser Ralf Schlatter nach seinem Debüt «Federseel» (2002) ein weiterer beachtlicher Roman gelungen. 

 

Ralf Schlatters seltsamer, wunderbarer Roman «Sagte Liesegang»

Vexierbild mit Vater, Mutter, Kind

Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 18. Dezember 2013 

Im Ton staunend, zynisch, nüchtern, empathiebereit, immer pointensicher zwischen Slapstick und wehmütigem Pathos. Selten wurde so entlarvend und zärtlich von helvetischen Helden der kleinen Dinge erzählt, am Ende zum Weinen schön. Ralf Schlatter, bekannt als Hörspielautor und Kabarettist des politisch-literarischen Duos «schön & gut» (mit Anna-Katharina Rickert), entwickelt zwischen dem Geologen (Vater) und dem Seismologen (Sohn) eine tragische Verwerfung der tektonischen Familien-Kontinentalplatten, die sich überlagern, abschürfen, die voneinander abdriften (nach der ersten Liebesnacht ihres Sohnes wagt die Mutter wegzugehen), und öffnet uterine Höhlen der Entgrenzung mit einer hinreissenden, psychisch flirrenden Strahlerin (ja, im slowenischen Karst, gletschermilchblau), die Kristalle bricht wie das Herz des armen Helden. Der Text ist motivisch souverän verfugt. Hämorrhoiden antworten Stalaktiten, Rutschbahnen im Aquatic-Center dem Geburtskanal und, wer weiss, dem Gotthardtunnel; die Berge der Alpen den Gipfeln der Erinnerung. Fledermäuse kreuzen vom Höhlen- ins Seelendunkel, und die Erdbebenskalen zittern durch das Empfinden. Vom überraschenden Ende her, das dem Erzählen vor dem Engel seinen höchsten Grund gibt, wäre das Buch, ein Bergkristall übersehener Not, ein zweites Mal zu lesen.

 

Ralf Schlatter: Sagte Liesegang

Susanne Sturzenegger, SRF 1 und 2, Buchtipp, November 2013 

Liesegang war Seismologe und in seinem Leben hat es öfters gewaltig gekracht, fast so, wie die Kontinentalplatten aufeinanderprallen und Beben auslösen. Liesegang war ein trauriges Kind und ein einsamer Mann. Und doch hat er aus seinem schwierigen Leben das Beste gemacht. Jetzt, im Rückblick, wirkt er fast heiter und gelassen, er hat ja nichts mehr zu verlieren. Faszinierend ist nicht nur, was Liesegang über sein Leben sagt, sondern wie er es sagt. Schlatter zeigt in diesem Buch sein Können, zeigt, wie man mit dem Mittel der Sprache und Fantasie Grenzen überwindet, sogar den Tod. «Sagte Liesegang»: Ein ungewöhnlicher Titel für ein ungewöhnliches Buch.

 

Gegen das Verschwinden

Edith Fritschi, Schaffhauser Nachrichten, 19. November 2013 

Es könnte eine furchtbar öde Geschichte sein, dieser Monolog des Seismologen Liesegang. Aber dann wäre es kein Text von Schlatter, sondern einer, dem die Komik fehlte, das Spielerische, die überraschenden Gedankenblitze über die Nebensächlichkeiten der Welt. Und Liesegang, diesen ganz Speziellen, hat man im Laufe des Lesens immer lieber.

 

Ralf Schlatter: Sagte Liesegang

Dagmar Härter, Deutscher Bibliotheksservice, November 2013 

Der neue Roman des mehrfach ausgezeichneten Schweizer Autors und Kabarettisten ist ein einziger langer Monolog des Ich-Erzählers Liesegang. Und man merkt den Satiriker, denn in all der scheinbaren Tristesse und Belanglosigkeit blitzt immer wieder verräterisch die tiefgründige Komik durch, die den Text leicht macht und angenehm zu lesen. Gute, qualitätvolle und kluge Lektüre.

 

Ralf Schlatter: Sagte Liesegang

Tanja Kummer, SRF 3, Buchtipp, 17. Oktober 2013 

Liesegang ist ein grosser, ein warmherziger Erzähler, mit Witz in den Worten, manchmal ist es Galgenhumor. Poetisch leicht schildert Liesegang die Ereignisse, er, der immer Teilnehmer und selten Akteur war. Ein Buch wie ein Handschmeichler aus Kristall: Er ist griffig, gibt Wärme ab, tut wohl; man entdeckt immer anderes, wenn man sich ihn genauer ansieht. Alle, die das Buch in die Finger bekommen, sollten es lesen, es hat so viel da drin, was Freude macht. Überzeugend als Komposition, absolut schöne und schlaue Unterhaltung.

 

Ein Leben mit Steinen und Höhlen

Wolfgang Bortlik, 20Minuten, 15. Oktober 2013 

Ralf Schlatters neuster Roman ist sehr originell konstruiert und bildmächtig erzählt. Er arbeitet viel mit wiederkehrenden Motiven wie etwa dem Song «Sympathy for the Devil» von den Rolling Stones. Öfters unterbricht auch ein wohltuender, trockener Humor die Tristesse von Liesegangs Leben.

 

zu «König der Welt»

 

Deinerseits und anderseits

Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 20. März 2012 

Ralf Schlatters «Morgengeschichten» sind DRS-1-Hörern vertraut wie auch seine Hörspiele; zusammen mit Anna-Katharina Rickert tritt er seit 2003 erfolgreich mit dem poetisch-politischen Kabarett «schön&gut» auf. Ralf Schlatter hat Theaterstücke geschrieben und mehrere Bücher veröffentlicht (darunter zwei Romane). Was kaum einer wusste: Seit zwanzig Jahren arbeitet er in seinen Tage- und Notizbüchern an Gedichten. Wie ein verstärkender Beifaden durchläuft Lyrik seine Texte und Produktionen. Eine schön komponierte Auswahl ist nun unter dem Titel «König der Welt» in der luxuriös-schlichten Edition «Die Reihe» des Wolfbach-Verlags erschienen. Die Gedichte sind in vier Kapitel gegliedert. «auf der innenseite» versammelt Verse zu einem unsicheren Ich: «die augen verstaucht / das ohr gestürzt», ist es lebensverunfallt auf dem Weg. Was ist wirklich zwischen «schrifttafeln» und «himmel»? So gerät es «nachts mitten in der stadt» in den Blickkontakt mit einem Fuchs, der «eine ewige sekunde» lang zum Alter Ego wird, in der Angst «vor dem frei sein / vor dem wild sein / vor dem freiwild sein». Dieses Ich spielt wie Alice im schauerschönen Wunderland mit dem bösen Wolf aus dem Märchen oder der Schnecke im Tierfilm oder mit dem Spiegel, auf dem am Morgen nach einem «seitensprung mit mir selbst» in roter Lippenstiftschrift steht: «see me». Wenn dieses traumwandlerisch sprachsichere und alltagstaumelnd gefährdete Ich einmal «könig der welt» wäre, dann würde es die Gedanken entlassen, die Bilder vernichten, das Schweigen gebieten und endlich: «ich herrschte mich an / um einmal nur / frieden / mit mir». Orientierung verspricht der (auch wortlose, der utopische) Ort der Sprache, dem das zweite Kapitel «auf der rückseite» gewidmet ist. Es enthält Zeilen, die «weit weit wort» führen in jene zauberbereite Gegen- und Mitwirklichkeit der Buchstaben, in der ein schriftloses «denkmal für das unbekannte wort» errichtet wird oder eine märchenhaft intime Szene sich öffnet, die allein in Silben verbürgt ist: «die stille ist ein berg / nachts / schläft das licht / an seiner flanke». Die erfüllte Sprachlandschaft führt zu «deinerseits», den Liebesgedichten des dritten Kapitels. Von den ersten Ahnungen der Nähe über das Wunder der Gemeinsamkeit bis zu Verlassenheit und Liebeskatastrophe spannen sich die Momente der Trabanten («Sputnik» heisst ein Gedicht). Es ist das wunderbare Herzstück des Bandes, der mit einer Porträtfolge im Kapitel «anderseits» endet. Ein altgedienter Nachrufschreiber stirbt, seinen eigenen lakonischen Nekrolog in die Maschine gespannt: «sein leben bestand / aus dem leben / der toten»; ein alter Mann züchtet Spargel unter einem Krematorium; ein Paar sitzt ehefest im Wohnwagen, die Räder von Gartenzwergen verstellt, eine Frau träumt am Fenster des Nachtzugs. Die Gedichte von Schlatter sind welthaltige Kondensate, silbensicher, seelengenau: sie lesen sich fast einfach und kippen dann doch im Zeilenbruch immer wieder in noch einen anderen Sinn: «ein meer / mitten in der landschaft / die bäume stehen still / vielleicht / schneeweiss der himmel / warum / ich dich liebe».

 

zu «Verzettelt - Verlorene Worte und ihre Geschichten»

 

20er, Tiroler Strassenzeitung

Mai 2009 

Für sein neues Buch «Verzettelt» hatte der Schweizer Autor Ralf Schlatter eine außergewöhnlich gute Idee: Über Jahre sammelt er weggeworfene, liegen gelassene, vergessene oder verlorene Wörter in Form von Notizzetteln, Nachrichtenfragmenten und Brieffetzen. Daraus formt er kurze Geschichten, erfindet Kontexte, erdichtet ein Vorher und Nachher. Nicht zuletzt haucht er diesen gleichsam gestorbenen Wörtern neues Leben ein und findet Platz fürs Skurrile, Ausgefallene und humorvoll Verdrehte. Manche Geschichten finden Fortsetzungen, ziehen sich durchs ganze Buch, andere stehen für sich allein und einige werden doppelt erzählt – weil Ralf Schlatter die KollegInnen Ruth Schweikert, Franz Hohler und Christoph Simon um Gastgeschichten gebeten hat. Und gerade, wenn derselbe Zettel Ausgangspunkt für verschiedene Geschichten ist, wird das Projekt des Buches besonders sichtbar: Jene Möglichkeiten durchzuspielen, die in unserer so linear wirkenden Realität angelegt sind. Ebenso hervorragend wie unterhaltsam erzählt, zelebriert «Verzettelt» einen fantastischen Realismus auf Schweizer Art und ist mehr als nur ein Buch für zwischendurch. 

 

Angezettelt

Christopher Zimmer, Strassenmagazin Surprise, 23. Januar 2009 

Mit «Verzettelt» hat Ralf Schlatter eine rechte Zettelwirtschaft angezettelt - und das zu unserem Vergnügen. Ein wundersames Sammelsurium von Kabinett- und Kabarettstückchen mit Gastschalkiaden von Ruth Schweikert, Franz Hohler und Christoph Simon. Allerlei Kurzweiliges und Hintersinniges, mal ausgelassen, mal melancholisch, mal schräg, mal bitter: medizinische Befunde, eine Kunstaktion zur Aufdeckung von Etikettenschwindel, eine Attentatsanweisung, die Aufdeckung des Ursprungs der Installation «Der Lauf der Dinge» von Fischli/Weiss, aber auch sogenannt Banales, kleine Dramen des Alltags oder unausweichliche Zufallsweichen. Manche Figuren kehren wieder - so die unverwüstlichen SMS-Fun-Girls Tanja und Paula - und es entstehen mitunter aus vermeintlich Unzusammenhängendem scheinbar logische Lebenspuzzels. Prädikat: Hoch ansteckend! Vor Fundzetteln aller Art wird gewarnt! Und vor dem sorglosen Umgang mit Zetteln nicht minder. Denn Vorsicht: Schlatter geht um!

 

Kreative Zettelwirtschaft

René Zipperlen, Der Sonntag, 6. Juli 2008 

Ralf Schlatter ist ein Aufklauber. Zehn Jahre lang hat der Kabarettist und Autor aus Schaffhausen viele hundert Zettel gesammelt, verknitterte, zertretene, zerrupfte, achtlos fallen gelassene, schmerzhaft vermisste. Hat sie glatt gebügelt, zusammengeflickt, entziffert, vor allem aber bestaunt und sich von ihnen inspirieren lassen: Um das Gekritzel auf Einkaufszetteln, Kurznotizen, privaten Ermahnungen und Erinnerungen, Zeichnungen und Erläuterungen hat er Geschichten erfunden und Dialoge. Über 100 kleine Prosastückchen sind so entstanden, witzige, poetische, rätselhafte. Schlatters Zettelwirtschaft wirkt zum Teil wie ein Wettbewerb des Autors mit sich selbst oder freies Assoziationstraining. Aus banalsten Einkaufszetteln entwickelt Schlatter ganze Soziogramme, aus banalen Notizen bastelt er verwegene Verschwörungen, aus ein paar verkritzelten Käsekästchenrunden destilliert er mit leichter Hand ein fieses Familiendrama, aus anderen wieder handfeste Beziehungs- und Lebenskrisen. (...) «Verzettelt» ist ein schön gemachtes, abwechslungsreiches Werk, ein Schmöker mit Kleinstepen und angerissenen Universen, von denen manche sich fortschreiben möchten. Das Schönste aber: Man wird sich kein Zettelchen mehr entgehen lassen. Das Spiel kann beginnen.

 

zum Hörspiel «Rumantsch grischun»

 

Raffinierte Rächerinnen aus der «Hörstatt»

Neue Zürcher Zeitung, 28. April 2006 

«Rumantsch Grischun» von Ralf Schlatter endet zwar auch mit einem raffinierten Racheakt, doch das Strickmuster des Stücks ist eher bunt, ein eigenwilliger Mix aus Krimi, Sitcom und Melodrama. Der Rätoromanischkurs, zu dem sich bloss zwei Schülerinnen einfinden, dient als Leitmotiv, das drei Menschen zusammenführt und die Handlung in Gang bringt, eine heitere Melodie, von grollenden Untertönen durchsetzt. Das tragende Element des Stücks aber ist das Spiel mit der Sprache, den Redensarten. Da steckt sein eigentliches Potenzial, da zeigt sich die Stärke des Autors: dass er dem Volk den Umgangston abzulauschen versteht, ein Ohr hat für die «Mödeli» der Leute. Ein Glanzstück ist etwa die Rolle der zwanzigjährigen Martina, die er Anna Katharina Rickert, seiner Partnerin im Kabarettduo «schön&gut», auf den Leib geschrieben zu haben scheint. Jedenfalls kann man sich die Kaskaden des jugendlichen Megageil-Vokabulars kaum authentischer vorstellen. Auch die rührenden Versuche der 67-jährigen Heide aus Deutschland, sich sprachlich anzupassen, sind bei Dinah Hinz bestens aufgehoben. Sie verleiht der nur scheinbar harmlosen Witwe, deren Mann in einer Lawine ums Leben kam, differenzierte Präsenz und bleibt glaubhaft auch da, wo die Rolle zu blossem Karikieren verführen könnte.
Keinen leichten Part hat René Schnoz als Vinzenz Padrutt. Voller Widersprüche, labil ist der Charakter dieses seltsamen Sprachlehrers, der bis zu einem Unfall vor fünf Jahren Skilehrer und Tourenleiter war. Meist gibt er sich launig, kann jedoch plötzlich in Schimpftiraden ausbrechen, als stehe er enorm unter Druck. Schnoz meistert die Ambivalenz der Figur bravourös. Auch die kleineren Rollen sind mit Charlotte Joss als Martinas Mutter und Marietta Jemmi als Papeterieverkäuferin überzeugend besetzt. Und der Autor selber bietet als Barman im Zug eine Probe seines mundwerklichen Könnens. Mit feinem Sinn für Rhythmus und Ambiance führt Geri Dillier Regie in dieser soeben mit dem Prix Suisse 2006 ausgezeichneten Produktion, zu der Michael Wernli stimmige Musik beisteuert. 

 

zu «Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor»

 

Meere, Mythen, Mikros

Alexandra Kedves, Neue Zürcher Zeitung, 2. Juni 2004 

"Ge-, Geschichten erzählen bringt Glück!", stottert der verstörte Held in Ralf Schlatters Romandébut "Federseel", das vor zwei Jahren erschien. In Schlatters neuer Erzählung, "Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor", aus der er am 3. Juni in Zürich lesen wird, steht diese Erkenntnis aus dem Début ganz am Anfang, ist verborgener Born von überschäumenden und übereinander schäumenden Geschichten. Dabei passiert in "Maliaño" eigentlich gar nichts: Gustav Julius Kaufmann sitzt am 21. Juni 2002, seinem 32. Geburtstag, frühmorgens in der S-Bahn zwischen Bahnhof Hardbrücke und Bahnhof Oerlikon, so wie jeden Tag. Sommersonnenwende. Da geht im Käferbergtunnel plötzlich das Licht aus, und die S-Bahn hält an - klassischer Einstieg in einen Ausstieg aus einem geheimnislosen Alltag. Auf den folgenden rund 140 Seiten kreuzen wir Weltmeere und Weltmythen, leben mal am Fuss von Bergen mit Löchern, mal auf Hügelkuppen, die man sich auf einer umstülpten Reliefkarte als Loch vorzustellen hat; mal bei einer wetterfühligen Dentalhygienikerin, mal bei einer waschechten Wetterfee mit Sirenenstimme.
Doch die Imaginationen des 1971 in Schaffhausen geborenen Wahlzürchers Ralf Schlatter sind nichts weniger als Fantasy-Phantasmen. Nein, der im vergangenen Herbst mit einer literarischen Auszeichnung des Kantons Zürich geehrte Autor hat sich versuchshalber seinen eigenen "Goldenen Topf" geschmiedet, sein eigenes modernes Märchen. Seine Gegenwelt ist stets auch gegenwärtige Welt, seine Figuren stehen stets mit einem Fuss dort, wo Fahrpläne und Stempeluhren regieren. Die zauberische Wetterfee etwa spricht ihre Hoch- und Tiefdruckgebiete in ein Radiomikrophon, und der Weg von Oerlikon bis zu ihr lässt sich in abgerollten Zahnseidespulen messen (es sind ihrer 170 000). Und auch andersherum gilt die Doppelbödigkeit: Selbst den hartgesottenen Arbeitgeber von Gustav Julius trägt die Stimme aus dem Äther hinaus - hinaus aus seinen Hemmungen, hinein in eine hoffnungsvolle Verschmelzung.
Wieder, wie in "Federseel", scheint ein mutterloser Bub, Gustav Julius, die Vorstellungsmaschinerie anzukurbeln. Als Erwachsener träumt er sich eine Familie zurecht, ein Haus in Maliaño, Vater, Mutter, Kind. Aber diesmal hat Schlatter alles auch nur andeutungsweise Psychologische konsequent wegfabuliert und lässt die Motive für sich sprechen. Und den Stil: So setzt sich ein allwissender Erzähler selbstironisch in Szene, indem er sich in Klammer setzt. Da heisst es beispielsweise: Das Schiff "(Mathilde Oldendorff war hundertfünfundachtzig Meter lang, zweiunddreissig Meter breit und hatte dreiundvierzigtausend Bruttoregistertonnen . . .)". Statt romantisierend Zahlen zu meiden, spielt Schlatter mit ihnen wie mit allem anderen auch, wie mit den Märchenelementen und den modernen Themen ("Patchworkfamilie"). Der Titel der Erzählung ist Programm, und die Welt ist Wille und Vorstellung eines unbeschwerten, Un-Schopenhauer'schen homo ludens. Manchmal mag Letzterer allzu unbeschwert daherkommen. Ein bisschen mehr Gewicht hätte den Geschichten und Geschichtchen rund um Gustav Julius mehr - darf man das Wort noch wagen? - Relevanz gegeben. Oder, zumindest, mehr Spannung. Trotzdem: Die leichtfüssige Lust, die uns auf Maliaños Hügel entführt, die Löcher sind oder vielleicht ausgewachsene Kinderkrankheiten, ist ansteckend.

 

Kluge Poesie

Philipp Gut, Zürcher Tages-Anzeiger, 19. Januar 2004 

An einer szenischen Lesung präsentierte der Zürcher Autor und Kabarettist Ralf Schlatter seine Erzählung "Maliaño". Bereits nach seinem zweiten Buch steht fest: Schlatter schreibt unverwechselbar, und sein Werk wächst beständig, zur Freude einer hoffentlich ebenfalls zunehmenden Leserschaft. Wie der Debütroman "Federseel" ist auch seine neue Erzählung in der lokalen Wirklichkeit verankert, um himmelhoch über sie hinaus zu weisen. In "Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor" wird Zürich zum Ausgangspunkt für ein Feuerwerk fantastischer Geschichten. In deren Zentrum steht der Büroangestellte Gustav Julius Kaufmann, der eines Morgens nicht wie gewöhnlich in Oerlikon aussteigt, um zur Arbeit zu gehen. Er wandert nach Westen, indem er der Stimme seines Herzens folgt. Bis nach Maliaño, bis zur Radiometeorologin Ida Nordpol Zeppelin, deren Wetterberichte er über seinen "Weltempfänger" vernimmt. Im Zürcher Literaturcafé Sphères hatten diese liebenswürdig- skurrilen Hauptfiguren einen leibhaftigen Auftritt. Zusammen mit seiner Partnerin Anna- Katharina Rickert startete Schlatter hier eine szenische Lesetour. Auch sonst dürfte man die beiden künftig vermehrt auf der Bühne sehen. Als Kabarettduo schön&gut werden sie im Frühling den Salzburger Stier entgegennehmen können, den bedeutendsten deutschsprachigen Kleinkunstpreis. Sie mit geblümtem Rock, er in grauem Anzug, aber inkorrekt farbigen Schuhen: So nahmen Ida und Gustav das Publikum in eine Welt voll kluger Poesie mit, in der sich Witz und Melancholie, Märchenhaftigkeit und ironische Brechung, Einfallsreichtum und sprachliche Präzision glücklich vereinen.

 

Kapriolen eines Tagträumers

Markus Bundi, Aargauer Zeitung, 30. September 2003 

Auch bei seinem zweiten Buch ist der 32-jährige Autor nicht um Einfälle verlegen. Da finden sich beispielsweise die Eltern von Gustav auf dem Coverfoto von "Woodstock Music and Art Fair". Eine "King Lear"-Adaption fehlt ebenso wenig wie der Turnlehrer, der sich auf dem Behandlungsstuhl von Gustavs Mutter, einer Dentalhygienikerin, eine Sonderbehandlung gönnt. So streut Schlatter viele farbige Puzzlesteine - Absurditäten und Überdrehtheiten häufen sich -, wie sie sich nur in den Kapriolen eines geübten Tagträumers zusammenfügen lassen. Die Qualitäten des Autors bleiben unverändert: sein Hang zum Fantastischen, sein Flair für Überraschungen garantieren eine kurzweilige Lektüre.

 

zu «Federseel»

 

Kresse, Zucker, Phantasie

Alexandra Kedves, Neue Zürcher Zeitung, 13. August 2003 

In "Federseel" vergewissert sich ein junger Autor des Warum und Wozu des Schreibens, der Seligkeiten der Feder. Er hüpft verspielt, bisweilen allzu verspielt die Grenzen dieses wunderbaren Mediums Sprache ab, das den Menschen ausmacht und Unmenschlichstes ermöglicht. Und trotzdem ist Ralf Schlatters Titelheld nicht bloss ein Pappkamerad in einer Versuchsanordnung, die sich mit den Möglichkeiten des (auf Papier festgehaltenen) Worts auseinandersetzt. Die Geschichte über den traumatisierten Träumer könnte zwar noch lebendiger sein, sie könnte etwa auf die konstruiert-verkniffene Rahmenhandlung verzichten, blutleer aber ist sie nicht. Der bereits mit Fördergaben und Preisen geehrte Schriftsteller ist auf dem Weg zum Glück - des Geschichtenerzählens.

 

Federseel

Almut Finck, WDR 3, Meinungen über Bücher, 3. März 2003 

Randvoll ist der kleine Roman mit liebenswert-schrägen Gestalten. Da merkt man wieder den Kabarettisten Schlatter: zwei, drei Sätze und ein ganzer Charakter springt dem Leser entgegen. Frau Stankovic etwa, die mit schnarrender Stimme über das Fliessband in einer Tip-Ex-Fabrik herrscht, oder Hans, ein verhinderter Kunstmaler, der immer dieselbe schwarze Bundfaltenhose trägt, Zigarren raucht und vom Montmartre schwärmt, weshalb er jeden zweiten Satz mit 'merde alors' verziert. Von solch kleinen Leuten erzählt dieser komische, melancholische, hintergründige Roman, von Menschen, die sich durchwurschteln in ihrem mickrigen Alltag, die nicht wirklich gescheitert sind, aber ihr Glück schon ausgeschöpft haben, wenn sie einen Gratis-Abend in der Pizzeria gewinnen.

 

1001 Geschichten vom zehnten Finger

Beat Mazenauer, Der Landbote, 15. November 2002 

Der 31-jährige Ralf Schlatter hat sich in den letzten Jahren einen Namen als erfolgreicher Slampoet gemacht. Mit dem schmalen Roman «Federseel» debütiert er nun im «ernsten» Fach. Mit schönem Erfolg, wie gleich anzumerken ist. Die tragikomische Geschichte des Georg Federseel gefällt durch erzählerischen Reichtum, formale Kompaktheit und sprachliche Klarheit. Die mit leichter Ironie wattierte Traurigkeit erinnert zuweilen etwas an Bichsel und Steiner, sie ist ebenfalls mit ein wenig schrulliger Nostalgie versetzt, doch Federseel bleibt sich selbst. (...) Dergestalt ist der Held für seinen Autor eine ideale Figur, in der er den eigenen Ideenreichtum unterbringt: etwa in dem zauberhaften Märchen von der Blumenwiese. Die Geschichten, die Federseel laufend erzählt, sind jedoch nicht einfach Ausgeburten einer überbordenden Einbildungskraft. Vielmehr wandeln sie vorangegangene Variationen permanent ab, versetzen Motive und Figuren in neue Konstellationen und vernetzen sie so zu einer grossflächigen Erzähltextur.

 

Storys eines abgehackten Fingers

Markus Bundi, Aargauer Zeitung, 11. September 2002 

«Georg Federseel kam an Silvester zur Welt. Bis er vier Jahre alt war, glaubte er, das Feuerwerk abends gelte und leuchte nur ihm.» - Der Beginn von Federseels Geschichte, dessen Name Programm ist; unbeschwert, leicht und mit überbordender Fantasie wird hier erzählt. Ralf Schlatter bedient sich bei seinem Prosadebüt nicht nur gekonnt der Muster des Märchens, er kennt auch die Kniffe der Dramaturgie. (...) Bei aller Tragik gelingt dem 31-jährigen Zürcher Autor ein Debüt voller Humor. Ralf Schlatter hat fraglos ein Faible fürs Geschichtenerzählen; als Auslöser reicht schon das «Tavetscher Schaf» auf einem Zuckersäckchen. Aus Kleinigkeiten, um die sich kaum jemand kümmert, schafft Schlatter ganze Welten.